Ignatia gehört, gemeinsam mit Nux vomica, Gelsemium, Spigelia und Curare, zur Pflanzenfamilie der Loganiaceen, die heftige zentralnervöse Affektionen hervorruft. Die bekannteste Ignatia-Anwendung sind akute Trauerzustände mit ungewöhnlichen, bisweilen paradoxen Reaktionen, z. B. unbeherrschbares Lachen nach dem Verlust eines geliebten Menschen.
Ignatia galt zwar früher eher als "Frauenmittel", wird heute jedoch ebenso bei Männern verschrieben. Ein "klassisches" Beispiel ist Goethes Schilderung seines ersten Liebeskummers (in "Dichtung und Wahrheit"), wie Dr. Gerhardus Lang in seinem Beitrag zu dieser ersten Boller Ignatia-Darstellung veranschaulicht. Langs Auffassung wird durch Erfahrungsberichte von Teilnehmer*innen ergänzt und bestätigt. Hahnemanns Einschätzung, Ignatia könne nur als akute Arznei dienen und sei in chronischen Fällen bestenfalls in Verbindung mit anderen (komplementären und interkurrenten) Arzneien verwendbar, wurde inzwischen schon des Öfteren widerlegt.
Menschen, für die Ignatia akut oder chronisch in Frage kommt, sind auch nicht immer - wie im klassischen Ignatia-Bild einseitig dargestellt - Hysteriker. Gemeinsam ist ihnen jedoch eine erhöhte Sensibilität und allgemeine Feinsinnigkeit, d. h. ein eher empfindsames Nervenkostüm, das sie bisweilen engel- oder puppenhaft wirken lässt. Vordergründig erscheinen sie jedoch meist unauffällig und darum auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen. Zur plötzlichen Auffälligkeit und zur Entladung gestauter, unterdrückter (emotionaler) Energien kann es jedoch in Kummer- und Stresssituationen kommen - bis hin zu epileptischen Anfällen (sog. "hysterische" Epilepsien).
Jürgen Becker und Gerhardus Lang, das legendäre Veranstalter- und Dozentenpaar der Boller Homöopathiewoche, reflektieren in ihrer gemeinsamen Betrachtung zusammen mit den Teilnehmer*innen die wichtigsten Kernthemen Ignatias: Ausgehend von fünf Fallbeispielen aus ihrer Praxis geht es dabei vor allem um die Frage, wie Menschen mit Verlusten und (idealistischen) Enttäuschungen umgehen, beispielsweise mit dem Verlust der Heimat oder nach Trennung/Tod von geliebten Menschen, insbesondere wenn jene stark idealisiert wurden und der Verlust für den Betroffenen nicht "fassbar" ist. Eine arzneidiagnostisch oft hilfreiche Frage ist daher: "Haben Sie früher mal einen seelischen Schock erlitten, den Sie kaum fassen konnten, der unfassbar war?"
Das bekannte Märchen "Vom Fischer und seiner Frau" verbildlicht, worum es bei Ignatia auf einer tieferen seelischen Ebene geht. Das Märchen dreht sich um die Spannung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Vernunft, Verstand und Einsicht geraten in Konflikt mit Wünschen, Trieben und Begehrlichkeiten. Im Märchen unterliegt am Ende die Vernunft auf enttäuschende Weise. Sie ist zu schwach, um sich gegen die maßlosen, unerfüllbaren Trieb-Ansprüche zur Wehr zu setzen.
Symbolisch (im Sinne C. G. Jungs) versteht Jürgen Becker die Kontrahenten (Fischer und Frau) als miteinander um Ausgleich ringende Seelenanteile, als die Archetypen Anima und Animus). In ihrem Konflikt manifestiert sich die menschliche Sehnsucht nach einem Ideal, das im Märchen durch den Butt (einen verwunschenen Prinzen) verkörpert wird. Geduldig müht sich der Butt, die stets größer werdenden Wünsche/Forderungen zu befriedigen und einen gesunden Ausgleich herzustellen. Doch die zur Hybris übersteigerte Unvernunft will keine Grenzen akzeptieren, so dass das Unterfangen am Ende scheitert.
Enttäuschte Ideale als seelische Verletzungen stehen meist am Ausgangspunkt von Ignatia-Krankheiten und führen in ein heilloses Auseinanderfallen von Gefühl und Verstand. Heilung wird möglich, wenn sich beide seelische Kompetenzen integrieren und versöhnen lassen und ein klarerer Blick entsteht für realistische Möglichkeiten anstelle unerfüllbarer Wünsche.
"Das Einzige, was hilft, ist paradoxe Therapie - oder eben Ignatia"
In diesem (in Vertretung) spontan gehaltenen Vortrag fasst Andreas Krüger seine vielfältigen Erfahrungen zu Ignatia zusammen. Das wohl paradoxeste Mittel der homöopathischen Materia Medica ist "die Leiche, die bergauf schwimmt", wie Jürgen Becker zu sagen pflegte.
Ignatia ist Krüger zufolge das wichtigste Mittel für alle (emotional) Verhungerten. Ihre Wunschpartner bekommen Angst, (seelisch) verspeist zu werden, so dass nichts mehr von ihnen übrig bleibt... Zudem verhält sich Ignatia heute so und morgen so - "situativ wahrhaft"! Doch was uns an Krügers humorvollem Vortrag zum Lachen bringt, erscheint aus der Perspektive Betroffener nur wenig lustig. Sie leiden sehr unter ihrem eigenen Drama: Wenn sie ihren Geliebten "zu Tode rilken" (Gedichte schicken) oder "wegsimsen" (SMS-Dauerfeuer), dazu häufige und kontroverse Änderungen im Denken und Reden, Wahnvorstellungen ("verheiratet zu sein"), hysterische Ausbrüche und Überidealisierungen.
Häufig wurde empfundene Todesnähe zu einer frühen Grunderfahrung von Ignatia, beispielsweise durch den Verlust/Weggang existenziell wichtiger Menschen (meistens die Mutter, z. B. Tod im Kindbett). Die Arznei kann dann - meist viel später im Leben - hilfreich sein bei Magersucht, Trauer nach dem Verlust geliebter Menschen (Tod eines Kindes, verwaiste Eltern). Ergänzend können paradoxe und humorvoll-provokative Interventionen (Bsp. Frank Farelly) heilsam sein.
Den Abschluss bildet das wundervolle Fallbeispiel eines jungen Mannes, der schon 200 Mal unglücklich verliebt war, doch nie dauerhaft glücklich. Erst nach Ignatia wurde eine langjährige Beziehung möglich. Ignatia hatte den alten "KZ-Hunger" gestillt, der diesen Fall prägte.
Aus: Krüger, Andreas: Ignatia. Das Drama des emotionalen Hungers (HT-566)
Querverweise & weitere Hauptthemen der Titel
Agaricus Arnica Arsenicum album Aurum Beziehung Calcium carb. Carcinosinum Hyoscyamus Lachesis Lilium tigr. Lycopodium Medorrhinum Miasmen Naja tripudians Natrium mur. Nux vomica Opium Partnerschaft Phosphor Pulsatilla Sepia Staphisagria Sulphur Trauma
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